Geschichte der Stösser-Standards
Neben der Umstellung von der Funktionspflege auf Bezugspflege, sieht Adelheid von Stösser in der Entwicklung von Pflegestandards eine Grundvoraussetzung für ein effektives Miteinander in der Pflege.
Für sie stand 1980 bereits fest, dass eine individuelle Pflegeplanung und -dokumentation frühestens dann umgesetzt werden kann, wenn das, was die Pflege generell anbietet, definiert ist. Schließlich fängt individuelle Pflege dort an, wo das Standardangebot aufhört. "Bei meiner praktischen Veranlagung sträubten sich mir die Haare, angesichts der ellenlangen Pflegepläne in Fachzeitschriften oder Büchern. So was kann doch kein Mensch auf Station umsetzen. Was macht das für einen Sinn, immer wieder das gleiche Programm hinzuschreiben, wenn z.B. ein Patient zu einer bestimmten Operation eingeliefert wird. Ist es da nicht viel einfacher die übliche Verfahrensweise, je nach Operationsart oder Krankheitsbild, in Form eines generellen Pflegeplanes niederzuschreiben, so dass in der Patientendokumentation nur die davon abweichenden bzw. zusätzlichen Maßnahmen aufgeführt werden brauchen?" Von dieser Überlegung ausgehend, hatte sie schon vor ihrer freiberuflichen Zeit einzelne Standardpflegepläne und Muster für eine individuell geplante, vollständige Patientendokumentation erstellt.
Eine Pflegedokumentation auf der Grundlage von Standards, darauf konnten sich Pflegedienstleitungen und Stationsleitungen einlassen. Das erschien ebenso sinnvoll wie praktikabel. Ausschlaggebend für die Projektaufträge, war die Konzeption. Davon waren sogar Chefärzte und Verwaltungsleiter angetan.
Das Konzept spricht für sich. Es handelt sich um ein Organisationsinstrument, wie es in jedem gut geführten, erfolgreichen Unternehmen gefunden werden kann. Denn Qualitätsentwicklung beruht auf Standardentwicklung, mithin auf verbindlich definierten Standards, die bei Bedarf verbessert oder neuen Ideen und Gegebenheiten angepasst werden. Hinter ihrem Konzept steht also weder eine Ideologie noch eine Pflegetheorie oder ein Modell, sondern ein weltweit erfolgreich praktiziertes Qualitätssicherungsverfahren. An der Konzeption war nicht unwesentlich auch ihr Mann beteiligt, der als Manager bei Procter&Gamble, einem amerikanischen Unternehmen, in den 80iger Jahren unter anderem für Qualitätsentwicklung/-sicherung zuständig war.
Pflegestandards sind so alt wie die Pflege selbst. Neu ist lediglich die Forderung, Art, Umfang und Qualität der Pflege schriftlich zu definieren und die praktische Umsetzung sicher zu stellen. Jahre bevor das Pflegeversicherungsgesetz spruchreif wurde, hat Frau von Stösser in Seminaren, Vorträgen und Veröffentlichungen erklärt: "Irgendwann wird auch jeder Pflegemitarbeiter die Qualität seiner Arbeit nachweisen müssen, und ich hoffe, dass dies bald der Fall ist. Denn die Pflege kann aus ihrem Dauer-Notstand nicht herauskommen, solange jeder nach seinem Gutdünken herumlaboriert und es niemanden interessiert, wie effektiv die Arbeit ist, die tagtäglich geleistet wird oder welche Resultate damit erzeugt werden."
Mit dieser Meinung stand sie lange Zeit ziemlich alleine da, um nicht zu sagen konträr zu den Ansichten, die von Berufsverbänden und Weiterbildungsinstitutionen verbreitet wurden. Vor allem 'Pflegetheoretikerinnen' an den Hochschulen sahen in ihrem Ansinnen einen Widerspruch zur ganzheitlich individuellen Pflege, die sie glauben, nur mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden gewährleisten zu können.
Das Zeitalter der Pflegewissenschaft beginnt mit der Einführung der ATLs.
Ende der 80iger Jahre, als unsere deutschen PflegewissenschaftlerInnen noch vorwiegend mit organisatorischen Fragen in eigener Sache beschäftigt waren, nahm eine aus Übersee importierte Pflegetheorie Einzug in die deutschsprachigen Pflegeschulen. Über das Lehrbuch von Liliane Juchli, den sog. "Juchli', fand das Modell der Lebensaktivitäten (Nancy Roper et.al.), in abgewandelter Form, rasche Verbreitung. Viele Lehrkräfte sahen darin die lang herbeigesehnte Grundlage zur Definition ganzheitlicher Pflege. Mit großem Eifer setzen sich zahlreiche Kollegen hin, um Pflegepläne in modellgemäßer Form zu entwickeln. Wenige Jahre später wurden eigens darauf abgestellte Dokumentationsformulare eingeführt, und wer noch nicht vertraut war mit der Pflegeplanung nach ATL, ADL, AL, AEDL oder einer hausspezifischen Modellvariation, wurde zu entsprechenden Seminaren geschickt. So zeichnete sich bereits Ende der achtziger Jahre die Entwicklung ab, die leider dann auch eingetreten ist:
Ungeachtet aller Umsetzungsschwierigkeiten und ohne je geprüft zu haben, ob eine andere Konzeption vielleicht besser geeignet wäre, beherrscht diese Theorie inzwischen alle Lehrbücher und Fachpublikationen, so dass den LehrerInnen kaum etwas anderes übrig bleibt, als auf Biegen oder Brechen sämtliche Pflegeinhalte den ATL/AEDL etc. zuzuordnen. Mittlerweile findet man beinahe niemanden in der Pflege mehr, der seine Zweifel an dieser Praxis äußert, denn wer es wagt am Raster der ATL zu rütteln, wird sogleich disqualifiziert, seit die Überzeugung vorherrscht, nur über diesen Wege ganzheitliche Pflege erreichen zu können.
Für Frau von Stösser führt dieser Weg jedoch ins genaue Gegenteil. Abgesehen davon, dass der Dokumentationsaufwand nach ATL/AEDL in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, der damit bestenfalls erzielt werden kann. In einem Artikel: "ATL: Die Pflege eines pflegebedürftigen Pflegemodells" (erschienen in der Deutschen Krankenpflege Zeitschrift, 1/92) wies sie erstmals auf den Unsinn von 'ATL- Pflegeplänen hin. Doch so wie dieser trafen alle weiteren Appelle auf taube Ohren.
Auf den kürzesten Nenner gebracht, besteht der Unterschied zwischen dem Pflegekonzept der Adelheid von Stösser und der Orientierung an diesem Modell, darin, dass sie von der Frage ausgeht: "Wo liegen die Zusammenhänge?" 'ATL- Pflegepläne' erklären hingegen jedes Defizit in den Lebensaktivitäten zu einem eigenständigen Pflegeproblem, für das Ziele und Maßnahmen geplant werden. Es wird nicht danach gefragt, wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt und nicht bedacht, inwieweit Defizite in einem Bereich andere Bereiche in Mitleidenschaft ziehen. Primäre und sekundäre Symptome werden gleichrangig aufgelistet und schematisch abgehandelt. Statt Synthese, Ganzheitlichkeit durch Vernetzung aller erkennbaren Faktoren, anzustreben, wählt man mit diesem Modell ein rein analytisches, symptomorientiertes Verfahren. Damit hat die Pflege im Prinzip den gleichen Weg eingeschlagen, auf dem sich die Medizin seit langem befindet. Und so wie die Medizin selten in der Lage ist, Krankheiten wirklich zu heilen, weil sie nicht die Ursachen, sondern die Symptome behandelt, wird auch die Pflege auf diese Weise an den eigentlichen Problemen vorbeiagieren. Näheres finden Sie unter Literatur.
Zunehmend musste Frau von Stösser in den neunziger Jahren erleben, wie Schwestern und Pfleger in der Praxis hin und her gerissen waren, zwischen der Begeisterung für ihr Konzept und der scheinbaren Verpflichtung nach einer Pflegedokumentation im ATL/ AEDL Format. Da sie nichts unterstützt, was ihr unsinnig erscheint, weigerte sie sich, ihre Standardpflegepläne diesem Modell-Format anzupassen. Dies ist der Grund, warum die 'Stösser-Standards' in der Fachliteratur heute kaum Erwähnung finden und sie seit 1999 keine Seminare und hausinternen Fortbildungen zu dieser Thematik anbietet, sondern sich einem anderen Bereich zugewandt habe.
Trotzdem sind ihre Vorlagen zur Entwicklung hauseigener Standards, bis heute gefragt. In der Praxis weiß man den Wert dieses Angebotes sehr wohl zu schätzen, wenngleich, wegen der erwähnten Modellorientierung, nur ein Teil der Funktionen genutzt wird.
1994 erschien die erste Standardsammlung unter dem Titel: "Qualitätsstandards in der Krankenpflege" im Eigenverlag. Ein Jahr später folgte ein zweiter Buchband, mit Standardpflegeplänen und Notfallstandards für den Krankenhausbereich. Wegen der großen Nachfrage von Altenpflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten, brachte Stösser 1996 zwei weitere Buchbände mit rund 200 Standardbeschreibungen für die Altenpflege heraus.
2008 waren bereits 30% aller Pflegeeinrichtungen sowie ambulanten Pflegedienste als Lizenznehmer bei uns registriert. Die meisten Anbieter von EDV Programmen für die Pflege, haben sich darauf eingestellt, die 'Stösser-Standards' in ihr System zu integrieren. Zahlreiche Autoren von Pflegefachliteratur zitieren aus diesen Büchern, wobei entsprechende Quellenverweise häufig jedoch fehlen. Einige haben unsere Standardvorlagen, in mehr oder weniger abgewandelter Form, komplett unter ihrem eigenen Namen herausgebracht. Denn tatsächlich tat sich nach der Verabschiedung des Pflegeversicherungsgesetzes ein Markt auf, den man nicht alleine 'Stösser-Standard' überlassen wollte. Jedoch wenn Sie die Angebote vergleichen, werden Sie feststellen, dass dieses Angebot sowohl vom Umfang als auch in Punkto Anspruch, Handhabung und Preis, konkurrenzlos geblieben ist.